Die "Todeschi de Bolzan"

Als ich ab März 1966 in der Region arbeitete, begann ich besser zu verstehen, wer die „Todeschi de Bolzan“ – so nannten wir die deutschsprachigen Südtiroler am Trentiner Sulzberg, meiner Heimat – eigentlich waren. Ich bedauerte, dass mir während der Schulzeit die Geschichte und die Identität meiner Nachbarn nicht besser erklärt worden waren.
Paolo Magagnotti, geboren in 1941 in Crevalcore (Bologna) und aufgewachsen im Trentino, Journalist, derzeit Präsident der Vereinigung europäischer Journalisten und der deutsch-italienischen Gesellschaft für Europa. Verfasser zahlreicher Publikationen über die Autonomie des Trentino und Südtirols sowie über die europäische Integration.

Wie auf dieser Kundgebung im April 1947 wurde in Trient auf etlichen Massenveranstaltungen die Regionalautonomie gefordert.In der Region herrschte in den 60er Jahren ein angespanntes Klima. Diese Anspannung war eine Konstante in der Südtirol- Politik dieser Zeit. Meine Südtiroler Kollegen forderten mehr Autonomie für ihr Land. Ich erinnere mich noch genau an den Tag, als ich in mein Büro zurückkehrte und Albin Stimpfl, ein Südtiroler Kollege, von der gegenüberliegenden Straßenseite auf mich zukam. Er winkte mit der „Dolomiten“ in der Hand und rief freudig: „Paolo, Paket in Sicht!“
Die SVP setzte ihre Hoffnungen in den Artikel 14 des Autonomiestatuts, der vorsah, dass die regionalen Befugnisse an die Provinzen übertragen werden. Wegen der kurzsichtigen Haltung Roms sowie der fehlenden Sensibilität des Trentino wurden diese Hoffnungen aber enttäuscht. Man wird der Angelegenheit jedoch nicht gerecht, wenn man das Südtirol-Problem in den 50er und 60er Jahren auf die dehnbare Formulierung des Artikels 14 beschränkt. Ohne Zweifel hat auch die die Trentiner Realpolitik einen guten Teil der Schuld am Scheitern des ersten Autonomiestatuts. Die Trentiner waren auch dem Druck der italienischen Politiker Südtirols ausgesetzt, die in einer Landesautonomie Vergeltungsmaßnahmen seitens der deutschen Sprachgruppe befürchteten.

Region eine leere Hülse

Erst nach der Genehmigung des Pakets und der Verabschiedung des neuen Autonomiestatuts im Jahr 1972 hat die Autonomie einen neuen Aufschwung erlebt. Leider wurden nicht alle Chancen ergriffen, die ein gemeinsames Wachsen von Südtirolern und Trentinern im Sinne des vereinten Europas ermöglicht hätten. In der Region wurde nach Jahren der Spannung die Zusammenarbeit mit der SVP wieder aufgenommen. Die Volkspartei hat jedoch die Idee der Landesautonomie, losgelöst von der Region, weiter konsequent verfolgt und die Region wurde immer wieder als „leere Hülse“ bezeichnet.
Es ist eine schwierige Aufgabe, etwas mit Leben zu füllen oder auch nur am Leben zu erhalten, das ein wesentlicher Partner – in diesem Fall die Südtiroler – aushöhlen will. Den Trentinern kann man vorwerfen, dass sie nicht entschieden und überzeugt genug gehandelt haben, um die erhebliche Schwächung der Region zu verhindern. Heute ist es um die Region trauriger denn je bestellt.
Der Pariser Vertrag ist im Guten wie im Schlechten der Ausgangspunkt der Autonomie. Will man dieses Abkommen bewerten, dürfen die gesamtstaatlichen politischen Rahmenbedingungen und die internationale Situation nicht vergessen werden. Von der Unterzeichnung des Vertrags ist nicht einmal ein Foto geschossen worden. Der auf Maschine geschrieben Text wurde handschriftlich korrigiert.
Ich verstehe zwar die Ressentiments der deutschsprachigen Südtiroler gegenüber Degasperi, aber ich kann einfach nicht glauben, dass er die Ausweitung der Autonomie auf das Trentino ausgehandelt hat, um die Südtiroler zu verraten. Selbst Karl Gruber, mit dem ich darüber unterhalten habe, schließt dies aus. Überzeugender sind für mich die Sätze, die Gruber im September 1976 anlässlich des dreißigsten Jubiläums der Unterzeichnung des Pariser Vertrags eigenhändig schrieb: „Ministerpräsident Alcide Degasperi hat sowohl das Abkommen wie auch die autonomen Einrichtungen selbst als einen Vorläufer echter europäischer Gesinnung bezeichnet. Ich habe ihm dabei von vollem Herzen beigestimmt“.

Südtiroler Ressentiments

Wenn sich die Zusammenarbeit zwischen Trentinern und Südtirolern nicht so entwickelt hat, wie es sich Gruber und Degasperi vorgestellt hatten, so darf man dies nicht einfach den beiden Vertragsunterzeichnern ankreiden. Die Südtiroler hatten schon immer eine Abneigung gegen den „Auslegungsrahmen“ des Pariser Vertrags. Abgesehen davon glaube ich, dass ein Verrat – wenn es denn einen gegeben hat – mit aller gebotenen Vorsicht den Trentinern vorgeworfen werden kann. Sie haben die klare Botschaft Degasperis – die Zusammenarbeit „für die Bruderschaft der Völker“ – nicht angemessen begriffen. Deshalb konnten sie seine vorausblickende europäische Vision nicht umsetzen. Diese Zusammenarbeit wäre ein Experiment gewesen, das auch vom italienischen Nationalstolz einige Opfer abverlangt hätte.
Wenn man im Trentino mit mehr Entschlossenheit das hauptsächlich in italienischen Kreisen Südtirols proklamierte „Siamo in Italia, si parli italiano“ zurückgewiesen und sich mehr darum bemüht hätte, die Kenntnis der deutschen Sprache zu verbreiten und sie im Trentino zur Zweitsprache und nicht zur Fremdsprache zu machen, hätte sich die Geschichte unserer Autonomie anders entwickelt.
Heute ist es der deutschen Sprachgruppe de facto gelungen, den Pariser Vertrag nach ihren anfänglichen Vorstellungen umzusetzen. Die Überreste der Region können die für die Südtiroler Bevölkerung grundlegenden Entscheidungen weder beeinträchtigen noch beeinflussen. In einem Klima, das sich von den schwierigen Jahren der Unterzeichnung und ersten Umsetzung des Vertrags deutlich unterscheidet, haben sich das Trentino und Südtirol verpflichtet, ihre Bevölkerungen auf dem Weg ins neue Europa und in die globalisierte Welt zu begleiten. Abgesehen von den politischen Kontakten und Lippenbekenntnissen, müssen sich nun die Menschen an dieser Reise beteiligen. In diesem Sinne müssen sich meines Erachtens die Vertreter aller Sprachgruppen mit den hehren europäischen Ansprüchen von Gruber und Degasperi identifizieren und sie zu ihren eigenen machen.

Paolo Magagnotti